Eckernförder Lesebuch

Von der Lesegesellschaft zur öffentlichen Bibliothek -

Bemerkungen über Lesekultur in Eckernförde seit dem 18. Jahrhundert / von Rainer Beuthel

 

 Was lasen Menschen in Eckernförde zu vergangenen Zeiten?  Wer las? Und zu welchem Zweck? Besaß man (und Frau) eigene Bücher? Oder wurden sie eher geborgt? War nur Zeit zur flüchtigen Zeitungs- oder Zeitschriftenlektüre?

 Zu dürftig ist leider die Quellensituation, als daß solcherart Fragen zufriedenstellend zu beantworten wären. Weder verfügen wir über genaue Aufzeichnungen von Eckernförder Einwohnern vergangener Zeiten über deren Lesegewohnheiten, noch über eine genügende Zahl erhaltener Privatbibliotheken etwa von Bürgerhaushalten des 18. oder 19. Jahrhunderts. So wird „Lesekultur“ im folgenden ausschließlich anhand von Institutionen bzw. Initiativen zur Bereitstellung von „Lesestoff“ untersucht werden, wobei auch die Motive der jeweiligen Initiatoren von Interesse sein sollen.

 Was die Vorgeschichte des Lesens als weit verbreiteter Kulturtechnik betrifft, so wird es in Eckernförde während der frühen Neuzeit ähnlich wie andernorts in Norddeutschland gewesen sein[1]: Infolge der Reformation war es zu einer spürbaren Zunahme des Lesens gekommen. Die Buchproduktion wuchs, auch in niederdeutscher Sprache. Die Wirren des 17. Jahrhunderts, vor allem die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges, erbrachten einen Rückschritt sowohl der Lesefähigkeit wie des Leseumfangs. „Gelesen“ im heute gebräuchlichen, also im Sinn eines beständigen und ausführlichen Lesens, wurde vornehmlich  in Kreisen des Adels und Klerus, der Beamten und Gelehrten, also innerhalb einer kleinen Schicht von Privilegierten, bis weit ins 18. Jahrhundert zu einem nicht geringen Anteil in Latein. Die Analphabetenrate der Gesamtbevölkerung betrug gegen Ende dieses Jahrhunderts in weiten Teilen Europas noch mehr als 50 Prozent. Ein flächendeckendes Schulwesen wie auch der Buchhandel waren erst im Entstehen. Öffentliche Bibliotheken für breitere Schichten der Bevölkerung gab es so gut wie gar nicht. Alltägliche Umgangssprache der breiten Volksschichten unserer Region war weiterhin das Niederdeutsche, das im 17. und 18. Jahrhundert als Kanzlei- und Schriftsprache vom Hochdeutschen nach und nach verdrängt wurde.[2]

 Vergegenwärtigen wir uns die Bevölkerungsstruktur Eckernfördes von 1769 anhand einer Auflistung männlicher Berufe[3], so gehörten zur Schicht der „Gebildeten“ ca. 30 Personen, so etwa zwei Prediger, drei „Schulcollegen“, zwei Ratsherren, zwei Apotheker, ein Stadtsekretär, drei Chirurgen - samt Familienangehörigen also eine Gruppe von vielleicht 150 bis 200 Menschen. (Zum Vergleich: „Die Anzahl aller Seelen, die über 12 Jahre alt sind, beläuft sich auf 1450“[4]). Rund achtzig Prozent der Bevölkerung bestand aus den Familien von Handwerkern (z.B. 34 Mälzer, 32 Bierbrauer, 15 Fischer, 16 Schneider, 25 Schuster), Fuhrleuten, kleinen Kaufleuten und anderen Gewerbetreibenden.

 Für die Antwort auf die Frage, was diese Menschen eventuell gelesen haben könnten, ist das Nachlaßverzeichnis eines im Jahr 1803 verstorbenen  Eckernförder Buchbinders, der auch mit Büchern handelte, recht aufschlußreich[5], wobei sich die „Leseverhältnisse“ zwischen 1769 und 1803, sowohl die Häufigkeit, als auch die Vielfalt des Gelesenen betreffend, eher zum Besseren entwickelt haben werden.

 Den Löwenanteil des vollständig nachgewiesenen Buchlagers bilden allerlei religiös-erbauliche Schriften: verschiedene Bibel- und Gesangbuchausgaben, z.T. in hohen Stückzahlen, Katechismen, Predigten, Kommunions-, Andachts- und Passionsbücher. Des weiteren finden sich Schulbücher zum Erlernen fremder Sprachen (Latein, Französisch, Hebräisch, Dänisch), Rechenbücher, „ABC-Bücher“, „216 Stück Fibeln“, Erziehungsratgeber für Eltern und Lehrer, etwa „Der Jüngling in der Einsamkeit, wie auch Betrachtungen über die Erziehung der Söhne und Töchter“ oder „Von den Pflichten eines treuen Lehrers“ - Spiegel frommer Sitte und strenger Zucht. Einige wenige Titel zur Geschichte sind aufgeführt sowie eine Reihe alltäglich nutzbarer Sachbücher, so etwa „Die Schule des Ehestandes“, „Geheimnis, aller Arten Tinte zu machen“ oder „Kramers Bienenfreund“.

 Nur ganze 9 Titel des Buchlagers sind der Belletristik zuzurechnen. Goethe, Schiller, Wieland, Kleist, Lessing sucht man vergeblich, geschweige irgendetwas Ausländisches; vorhanden sind aber Klopstocks „Geistliche Lieder“. Betrachten wir das Lager des mit Büchern handelnden Buchbinders als Ausdruck der Eckernförder Lesekultur zu Ende des 18. Jahrhunderts, gewinnen wir also ein eher tristes Bild. Willers Jessen hierzu: „Während die Gutsbibliotheken dieser Zeit die Erzeugnisse der fremden und deutschen Dichter vollständig zeigen, hat das Bürgertum, abgesehen von wenigen höher Gebildeten, kein Verständnis für die Dichtung. Im Großen und Ganzen ist es ein sehr enger Gedankenkreis, in dem sich unsere Vorväter bewegten. Es bedurfte erst der Zeit von 1813 und 1848, um unterstützt von der sich entwickelnden Presse, das Bedürfnis nach Lesestoff im Volke zu wecken.“[6]

 Dieses Urteil Jessens ist bei näherem Hinsehen so nicht haltbar. Keinesfalls erst die antinapoleonischen Freiheitskriege und die Revolution von 1848 bzw. die schleswig-holsteinische Erhebung weckten das „Bedürfnis nach Lesestoff“. Insbesondere die Bestrebungen der Aufklärung erzeugten im Bürgertum mannigfaltige Lesebedürfnisse, die im letzten Quartal des 18. Jahrhunderts vielerorts in Schleswig-Holstein zur Gründung von Lesegesellschaften führten[7] , so auch in Eckernförde in den neunziger Jahren[8].

 Eine Lesegesellschaft wurde in der Regel zum Zweck des gemeinsamen, kostensparenden Gebrauchs von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern[9] ins Leben gerufen. Die Organisationsformen waren im einzelnen recht unterschiedlich; manchmal besaßen die Vereinsmitglieder einen Leseraum mit Bibliothekscharakter, zuweilen wurden die Schriften auch nur in Form eines Lesezirkels weitergegeben.

 Über die Lesegesellschaft in Eckernförde ist leider nicht allzuviel bekannt. Gegründet wurde sie wahrscheinlich von Johann Wilhelm Thöming, ab 1796 Rektor an der Lateinschule der Stadt, der auch später die erste Zeitung für Eckernförde ins Leben rief, das wöchentliche „Intelligenzblatt“[10] Darin heißt es am 16.11.1814 in einer Annonce, der „25ste Jahrgang des Catalogs“ seiner „Lesebibliothek, 1200 Bände enthaltend 4 ½ Bogen stark“ sei bei ihm, Thöming, für 10 Shilling zu erhalten.[11] Wie aus einem Brief Charlotte von Ahlefeldts an Christian Friedrich Tieck vom 23.6.1804 hervorgeht, handelte es sich bei Thömings „Lesebibliothek“, der auch ein „Journallesezirkel“ angegliedert war, um eine kommerzielle Leihbibliothek, die neben der Verbreitung von Literatur auch dem Zweck diente, das eher kärgliche Gehalt des „Schulmannes“ etwas aufzubessern.

 Von Ahlefeldt, die mit dem Ehepaar Thöming befreundet war, schreibt: „Ich habe gestern Thömings ihre kleinen Jungen wieder gebracht, bin aber mit Kopf und Augenweh zurückgekommen. Sie ist jetzt etwas besser, aber er hat ein schleichend Fieber, was mich ängstigt, da er sich in kurzer Zeit so sehr verändert hat. Ihre Existenz kann nur dann ohne Sorgen seyn, wenn sie beide gesund sind, und sich gehörig beschäftigen können, denn sein Gehalt besteht blos in 200 rt, und ohngefähr eben so viel trägt ihm eine kleine Leihbibliothek ein, die er errichtet hat. Das ist denn freilich nicht hinlänglich, sie zu erhalten, da noch obendrein alles hier so theuer ist. Aber niemand versteht vielleicht die Kunst, sich einzuschränken in einem so hohen Grad, wie sie, ohne dabei geizig zu seyn. Ich traf gestern den Recktor beschäftigt, Bücher einzubinden, womit er die Leihbibliothek vermehren will. Er sagte, daß außer der Ersparnis des Buchbinderlohns ihn diese Arbeit besonders anzöge, weil er sie in dem Zimmer seiner Frau verrichten und ihr dabei Gesellschaft leisten könnte, da er jetzt ohnedem zu ernsthaftern Geschäften unfähig wäre. Mich rührt sein Bemühen, bei großer Armuth doch ordentlich und ohne Schulden fortzukommen unendlich...“[12]

 Ein Verzeichnis der Thömingschen Lesebibliothek und „Journal-Leseanstalt“ ist uns leider nicht erhalten, doch lassen gelegentliche Anzeigen Thömings im „Intelligenzblatt“ Rückschlüsse auf den Bestand der Jahre ab 1814 zu. So werden etwa abonnierbare Zeitschriften angeboten, darunter die „Hallische Literaturzeitung“, die „Zeitung für die elegante Welt“, „Der Freimüthige. Ein Unterhaltungsblatt für gebildete und unbefangene Leser“ oder das „Journal für die neuesten Land- und Seereisen und das Interessanteste aus der Völker- und Länderkunde..“.[13]

 Ein Großteil der Buchanzeigen betrifft Neuerscheinungen zum aktuellen Welt- und Kriegsgeschehen: Etwa eine „Kurzweilige und wahrhafte  Beschreibung der Schlachten bei Leipzig - nebst einem Schlachtplan und illum. Spottbilde“, des weiteren „Schreckens-Scenen aus dem Leben der unglücklichen Rosaura Morano, während des blutigen und verheerenden Krieges Napoleons in Spanien“. Auch Erbauliches findet sich: „Deutschlands Wiedergeburt verkündigt und gefeiert durch eine Reihe evangelischer Reden im Laufe des Jahres 1813“, Humor: „Neuestes Buch zum Todtlachen. Eine Sammlung lustiger Anekdoten“[14] oder Reisebücher: „v. Zimmermanns Taschenbuch der Reisen, oder unterhaltende Darstellung der Merkwürdigkeiten Ostindiens“.[15] Einzige Belletristik-Neuerscheinung des Jahres 1814 ist bei Thöming ein Band Theodor Körners: „12 freie deutsche Gedichte“.[16] Die Ausleihfristen für die Bücher reichten, wohl je nach Umfang,  von zwei bis zu acht Tagen. Unterschiedlich waren auch die Leihgebühren, sie schwankten zwischen einem und sechs Shilling. „Das Lesegeld wird beim Empfang der Schriften bezahlt und die Bücher müssen nicht über die bestimmte Zeit behalten werden. Für Leser auf dem Lande ist die Zeit des Behaltens von einem bis respective zum andern oder nächstfolgenden Posttage“.[17]

 Über die Zusammensetzung der Leserschaft läßt sich nur spekulieren. Ob die Nutzung der Lesebibliothek in jedem Fall an eine Vereinsmitgliedschaft mit entsprechendem festem Mitgliedsbeitrag gebunden war oder ob eine einmalige Ausleihe möglich war, bleibt offen. Zu vermuten ist, wie andernorts, eine eher männliche Nutzerschaft aus der bürgerlichen Ober- und Mittelschicht, wobei die entliehenen Bücher und Zeitschriften möglicherweise durch viele Hände von Familienmitgliedern, Bediensteten oder Nachbarn gingen.

 Nach dem Tod Thömings (1827) wurden Leihbibliothek wie auch Zeitung („Eckernförder Wochenblatt“) von deren neuem Herausgeber Jens Knutzen weitergeführt.[18] Von einer kommunalen öffentlichen Bibliothek für alle Einwohner der Stadt konnte auch in den folgenden Jahrzehnten noch keine Rede sein. Eine 1875 vom Eckernförder Gewerbeverein neu gegründete Bibliothek war im Grundsatz eine Vereinsbibliothek. Dem Verein, der sich das Ziel der „geistigen Hebung seiner Mitglieder für das gewerbliche und gesellschaftliche Leben“ setzte, konnten „unbescholtene Männer aller Stände“ beitreten, „nachdem sie das zwanzigste Lebensjahr überschritten haben“[19], Frauen, Kinder und Jugendliche waren hier nicht vorgesehen.

 Die Bibliothek wurde schon bald nach Gründung des Gewerbevereins in einem Zimmer im Rathaus untergebracht; der Buchbestand, der im Lauf der Zeit auf ca. 2500 Bände anwuchs, befand sich wahrscheinlich in verschließbaren Schränken. Die vorhandenen Bücher waren in  Bandkatalogen[20] verzeichnet; 1879 erschien ein Druckkatalog, der für 20 Pf. zu erwerben war.[21] Die darin verzeichneten ca. 1000 Titel entsprachen ziemlich eindeutig dem „gesetzlich“ vorgegebenen Zweck der Bibliothek: Wir finden eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften zur beruflichen Fortbildung wie die „Deutsche Schuhmacher-Zeitung“ oder die „Gewerbehalle/Organ für den Fortschritt in allen Zweigen der Industrie“. Hinzu kommen Sachbücher wie „Die landwirthschaftliche Winterschule“, der „Gewerkvereins-Leitfaden“ oder „Der deutsche Geschäftsmann“, auch eine Menge historischer Sachliteratur, die die Haupt- und Staatsaktionen besonders der deutschen Geschichte behandelt. Andere Sachgebiete wie Naturwissenschaften, Erdkunde oder Biologie sind deutlich unterrepräsentiert.

 „Unbescholtenen Männern“ wurde durch den Druckkatalog von 1879 auch die Belletristik nahe gebracht: Was sich hinter blumigen Titeln wie „Der junge Trommelschläger“, „Das wüste Schloß“ oder „Eugen Stillfried“ verbirgt, läßt sich nur erahnen; Autoren wie F.W. Hackländer, Gustav Nieritz und Karl Stöber kennt heute wohl niemand mehr. Im Buchbestand vertreten sind aber auch eine Reihe deutscher Klassiker wie Goethe, Lessing, E.T.A. Hoffmann. Auch die Briten Thackeray und Walter Scott sind zu finden. Französische Belletristik dagegen ist überhaupt nicht vorhanden, weder Balzac, Diderot, noch Rabelais. Acht Jahre nach dem Krieg gegen den „welschen Feind“ war der Romanbestand der Bibliothek strikt „franzosenfrei“.

 Kaufleute und Gewerbetreibende bildeten zunächst die Kerngruppe der Bibliotheksbenutzer. In den Ausleihbüchern[22] finden wir hinter den Namen der Leser Berufsbezeichnungen wie Färber, Maler, Schneider, Buchbinder, Glasermeister, Uhrmacher, Photograph, Korbmacher, Bäcker, Kürschner, Friseur, Holzhändler, Schornsteinfeger, Kaufmann. Angehörige der Unterschicht lassen sich kaum entdecken. Nur dreimal im Ablauf von Jahrzehnten taucht die Bezeichnung „Arbeiter“ auf, einmal findet sich auch ein Postbote. Andererseits wurden in späteren Jahren eine Reihe von Fabrikanten sowie Angehörige von Klerus, Beamtenschaft und Bildungsbürgertum aufgeführt: Brauerei-Direktor, Mineralwasserfabrikant, Bauunternehmer, Pastor, Probst, Kreistierarzt, Zollbeamter, Seminarlehrer, Rektor, Bürgermeister, Senator. Der Charakter einer reinen Gewerbe-vereinsbibliothek hat sich also allmählich gewandelt in Richtung auf eine Bibliothek für „Gebildete“ aus Mittel- und Oberschicht.

 Obwohl zunächst satzungsgemäß nicht vorgesehen, gehörten dann auch einige wenige Frauen zu den Bibliotheksbenutzern, etwa 1880 ein „Frl. Müller“,  1886 ein „Frl. Möller, Lehrerin“ und 1892 eine „Frau Pastor Krah“ aus Borby.

 Nachdem die Bibliothek 1899 die Räume im Rathaus, die anderweitig genutzt werden sollten, räumen mußte, wurde sie in einer Gastwirtschaft (Bewarder) an der Reeperbahn untergebracht.[23] Auf Dauer konnte dieses Provisorium dem wachsenden Bedarf nach Lesestoff in der Bevölkerung natürlich nicht genügen. Vielerorts in Deutschland war es gegen Ende des Jahrhunderts zur Neugründung von öffentlichen Bibliotheken bzw. Bücherhallen gekommen. So entschlossen sich auch im Kreis Eckernförde Vertreter „staatstragender“ Parteien, Persöhnlichkeiten aus Adel, Bürgertum und Klerus, die Einrichtung einer Kreisbibliothek mit Ausgabestellen in Dörfern, aber auch in der Stadt Eckernförde voranzutreiben.

 Die Motive dazu waren durchaus nicht nur uneigennützig. So heißt es in der Beschlußvorlage des Kreistages zunächst allgemein: „Unsere Bevölkerung ist lesehungrig. Nicht nur der städtische, in dunklen Fabrikräumen beschäftigte Arbeiter nein, auch der in Gottes freier Natur thätige Landarbeiter verlangt, wenn er seine Arbeit gethan hat, nach geistiger Anregung. Es wäre eine arge Täuschung, wenn man glaubte, den einmal vorhandenen Lesehunger unterdrücken zu können. Alle etwa darauf hinzielenden Maaßnahmen würden völlig nutzlos sein. Es erscheint im Gegentheil durchaus nothwendig, daß dem zu Tage tretenden Bedürfniß Rechnung getragen und für guten Lesestoff gesorgt wird.“[24]           Nach einer herzergreifenden Schilderung der schlimmen Umtriebe eines Kolportageroman-Verlegers, der den „Lesehunger unseres Volkes“, statt es „sittlich zu heben, zu bilden und zu erziehen“, mit unsittlichen Schriften stillt, kommen die wohl eigentlich treibenden Motive zur Sprache: „...nicht nur eine gewissenlose Schriftsteller- und Verlegerzunft, sondern auch die sozialdemokratische Partei sucht den Lesehunger des Volkes für ihre Zwecke auszubeuten. Ihre Zeitungen, Zeitschriften, Flugblätter, Kalender, wissenschaftliche und populäre Werke bis hinab zu der neuerdings gepflegten Jugendlitteratur werden zu Tausenden von Exemplaren unentgeltlich oder gegen ein nur geringes Entgelt auch an die Landbevölkerung abgesetzt. Die Gefährlichkeit dieser Litteraturerzeugnisse bedarf wohl keiner näheren Begründung. (...) Die giftigen Litteraturerzeugnisse der Sozialdemokratie und der Roman-Kolportage sind es, welche dem Volkscharakter die guten Seiten nehmen, die Religion verdrängen, Sitten und Moral verderben und die Verrohung des Volkes fördern.“[25]

 Solch eindringlichen Argumenten konnte sich der Kreistag nicht verschließen und beschloß die Gründung einer Kreisbibliothek mit einem Etat von zunächst 1200 Reichsmark. In rund siebzig Gemeinden des Kreises sollten nun Buchausgabestellen (Bücherschränke unter Aufsicht von Lehrern und Pastoren) eingerichtet werden, etwa in Gammelby, Owschlag, Karby, Rieseby, Waabs, Holzbunge, Felm, Gettorf, Borby.[26]

 Die Filiale der Kreisbibliothek im Stadtgebiet Eckernförde nahm ihre Tätigkeit am 1.11.1909 in Räumen der Knaben-Bürgerschule (heute Willers-Jessen-Schule) auf. Mit einem vom Landkreis bewilligten Etat von 200.- Reichsmark, aber auch durch verschiedene Schenkungen, etwa von der Gäthjestiftung oder der Eckernförder Zeitung bedacht, verfügte die erste öffentliche Bibliothek in Eckernförde zunächst über einen sehr kleinen Buchbestand von 369 Bänden. Die „Chronik der Stadt-Bücherei Eckernförde“[27] führt für das Gründungsjahr außerdem eine Leserzahl von 305 sowie 2215 Buchausleihen auf. Der Bestand war wie folgt gegliedert: „Unterhaltung (Schöngeistiges), Erdkunde, Humor, Geschichte, Religion, Schöne Literatur, Seegeschichten, Kunst, Technik, Zeitschriften, Jugendschriften“. Das Jahr 1911 erbrachte eine Erweiterung um „Biographien, Plattdeutsches, Naturkundliches“. Die Bandzahl wuchs auf 563 und die Ausleihen auf 4018. In diesem Jahr wurde auch erstmals ein Leserprofil erstellt: Die Leserschaft setzte sich aus 77 Arbeitern, 52 Räucherern und Fischern, 60 Beamten, 23 Witwen, 39 Handwerkern, 25 Geschäftsleuten und 8 Dienstmädchen zusammen.

 Mit der Übernahme der Restbestände der Bibliothek des Gewerbevereins  verfügte die Stadtbücherei 1913 über ca. 1500 Bände.[28] Es fehlten weiterhin Wieland, Lichtenberg, Büchner, die gesamte Vormärzliteratur (Heine, Börne, Herwegh, Freiligrath, Weerth); selbst Hauptmann findet man nicht, geschweige denn die Autoren der sozialdemokratischen Arbeiterdichtung. Von einem ausgewogenen Buchangebot konnte also keine Rede sein. Anstelle von Weltliteratur der Cervantes, Swift, Rabelais, Balzac oder Tschechow wurde die ganze Palette deutsch- und heimattümelnder Hinterwald-Belletristik angeboten: Lob des Idylls wie des kriegerischen Heldentums, Bauern- und Dorfromane der Anzengruber, Auerbach, Ganghofer, Kröger oder Rosegger. Hinzu kamen - und das ist neu - im Bereich von Sachbuch wie Roman völkische Ideologen wie Friedrich Lienhard, Adolf Bartels oder Heinrich Sohnrey[29], Rassisten wie Hermann Popert[30] oder Houston Stewart Chamberlain[31] mit seiner Schrift „Die Grundlagen des 19.Jahrhunderts“, einem Buch, dessen abstruse, antisemitische  Rassentheorie später von den Nationalsozialisten übernommen wurde. Auf der anderen Seite fehlten Autoren wie Karl Marx und Friedrich Engels, Franz Mehring oder Eduard Bernstein völlig.

 Ein „gutes Buch“ sollte nach Absicht der Träger der Stadtbücherei also entweder der Flucht aus der Realität dienen oder, wo schon kritisches Denken nicht völlig zu vermeiden war, in deutsch-national konservative, völkische Richtung gelenkt werden. Ob diese Rechnung aufging? Es ist anzunehmen, daß unter den 94 Arbeitern und Fischern, 33 Handwerkern oder den 84 „Witwen und jungen Mädchen“ der Leserschaft im Jahre 1916 die eine oder der andere auch noch etwas anderes las und vielleicht angesichts der Tatsache, daß die Bücherei „infolge Einberufung des Leiters während der Sommerferien geschlossen werden“ mußte, ein wenig am Sinn des Weltkriegs zu zweifeln begann...

 Kriegsende, Novemberrevolution und der Übergang vom Kaiserreich zur Republik scheinen sich auf Buchbestand und Praxis der weiterhin von einem Lehrer der Knaben-Bürgerschule nebenamtlich geleiteten Bücherei zunächst wenig ausgewirkt zu haben. Ende 1919 aber heißt es in der „Chronik“: „Immer mehr wächst sich die Bücherei zu einem Bildungsmittel aus.“ Die Entleihungen stiegen. Häufiger als zuvor wurden Sachbücher angeschafft, die allerdings nach heutigem Maßstab immer noch einen sehr geringen Anteil um Bestand bildeten. 1921 kam es zu einem vor 1945 niemals wieder erreichten Höchststand an Ausleihungen von 14651.

 Aufstieg und Fall der Weimarer Republik, Not und Verelendung, spiegeln sich deutlich in der „Chronik“ wider. So sah sich die Stadt schon bald gezwungen, aufgrund wachsender Finanzprobleme ein „Lesegeld“ einzuführen. 1923 heißt es im Jahresbericht: Die Einahmen aus der Gebühr seien „natürlich gering, in den ersten Jahren 100-200 M., stiegen aber später erheblich und gehen heute in die Millionen.“ Die Einnahmen reichten „kaum für Bleistifte, Drucksachen und dergl.“..Es kam zu Etatkürzungen. Allmählich sanken die Ausleihen ab bis auf einen Tiefststand von 2713 im Jahr 1930. In diesem Jahr hat sich der Buchbestand auf 1792 Bände verringert, von denen ein Großteil vermutlich stark verschlissen war. 1931 heißt es in der „Chronik“: „Die Stadt-Bücherei befindet sich äußerlich in einem Zustand, der wirklich nicht anspricht. In diesem Zustand können keine erziehlichen Wirkungen von der Bücherei ausgehen. Wie ein Buch aussieht, so geht der Leser damit um. Es besteht begründete Hoffnung, daß bald einmal etwas Grundlegendes geschieht.“

 1932 wird die Bücherei geschlossen, in Zusammenarbeit mit der „Zentrale für Nordmarkbüchereien“ in Flensburg reorganisiert und in einem Haus an der Reeperbahn (heute: „Das Haus“) neu eröffnet. Die „Chronik“ hierzu: „Der ganze Bestand wurde gesichtet.“ Von 1800 Bänden wurden „900 für gut befunden“ und überholt. „Bezüglich der Sichtung wurde auch inhaltlich Veraltetes oder Minderwertiges ausgeschieden, sodaß jetzt ein zwar kleiner aber schlagkräftiger Bestand vorhanden ist.“ Worte wie „minderwertig“ und „schlagkräftig“ lassen schon die bald aufziehende „neue Zeit“ mit ihrem Bestreben einer grundlegenden Indoktrination der gesamten Bevölkerung erahnen.

 Das vorläufige Ende der Freiheit der Lesekultur im deutschen „Dritten Reich“ spiegelt folgende Eintragung in der „Chronik“ wider. Am 3.7.1933, also rund zwei Monate nach den reichsweit durchgeführten öffentlichen Bücherverbrennungen, notierte der Büchereileiter:

 „Vor einiger Zeit erhielt die Bücherei Schwarze Listen zugestellt, auf denen die Autoren verzeichnet sind, die ausgemerzt werden sollen. Es handelt sich im Wesentlichen um Asphaltliteraten, vorwiegend jüdische Autoren. Da die Stadtbücherei sich schon immer so ziemlich davon freigehalten hat, brauchten nur verhältnismäßig wenig Werke ausgemerzt zu werden. Von den zersetzenden jüdischen Werken und solchen marxistischer Tendenz wurden zurückgestellt:    

     1. Panferow: Die Genossenschaft der Habenichtse

     2. J. Wassermann: Der Fall Mauritius

     3.           -            : Das Gänsemännchen

     4.           -            : Der niegeküßte Mund

     5. Stefan Zweig: Amok

     6. Andersen-Nexö: Lobgesang aus der Tiefe

     7. Bruno Franck: Trenck

     8. A. Thomas: Die Katrin wird Soldat

     9. R. Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis

    10. Diehl: Über Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus

    11. Traven: Das Totenschiff

    12. Upton Sinclair: Petroleum

 Vor drei Wochen erschien vom Kampfbund für deutsche Kultur ein Mitglied der NSDAP, Kreisleitung Eckernförde, um die Bestände durchzusehen. Ich gab ihm einen Katalog mit, den er bis jetzt noch nicht wieder zurückgebracht hat.“

 In den folgenden Jahren führte die Bücherei ein kümmerliches Dasein. Inhaltlich einseitig im Sinne des Nationalsozialismus ausgerichtet, war sie für kulturell interessierte und kritisch denkende Menschen sicherlich nicht besonders attraktiv. Aber auch die dem Nationalsozialismus nahestehende Mehrheit der „Volksgenossen“ fand an dieser Bücherei wohl wenig Freude. Die Finanzmittel waren karg bemessen. Mehrfach mußte die Bücherei umziehen. So heißt es etwa 1938 in der „Chronik“: Die Stadt gebraucht „für die Erweiterung der Mittelschule den bisherigen Ausleihraum, daher wird die Bücherei in dem früheren Laden von Krause an der Reeperbahn untergebracht. Das ist behelfsmäßig, da er sehr wenig geräumig ist. Außerdem ist er feucht und manche Bücher haben darunter gelitten.“ Oder 1941: „Leider kann man alte, wertvolle Bände, die inzwischen zerlesen sind, nicht ersetzen.“

  Die „Vorgeschichte“ der öffentlichen Stadtbücherei Eckernfördes mit ihren eher bescheidenen Formen öffentlicher Lesekultur endet im Jahr 1945. Die Befreiung vom Faschismus durch die Armeen der Alliierten eröffnete für Deutschland, wie für Eckernförde im kleinen, den Weg zu einer Demokratie, die die Verwirklichung der Idee einer „Public Library“, einer wirklich für jeden zugänglichen, freiheitlichen und gut ausgestatteten öffentlichen Bibliothek einschloß. Durch öffentliche Finanzmittel geförderte Lesekultur befindet sich selbst in einer Kleinstadt wie Eckernförde heute auf einem unvergleichbar höheren Niveau als noch etwa zu Zeiten der Weimarer Republik. Dieses zu erhalten und weiter auszubauen sollte Ziel einer verantwortungsbewußten Kulturpolitik sein und bleiben.

    



[1] lt. Engelsing, Rolf: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500 - 1800.- Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1974.

[2] vgl. Meyer, G.F.: Plattdeutsch und Hochdeutsch.- In: Heimatbuch des Kreises Eckernförde.- Hrsg. von Willers Jessen und Christian Kock.- 2.Aufl.- Eckernförde: Schwensen, 1928.- S. 282 ff.

[3] Beschreibung der Stadt Eckernförde.- In: Schleswig-Holstein-Lauenburgsche Provinzialberichte für das Jahr 1818.- Kiel: Mohr, 1818.

[4] ebda. S. 250.

[5] Jessen, Willers: Was in Eckernförde um das Jahr 1800 gelesen wurde.- In: Die Heimat. 36 (1926) S. 157 - 159. Einen „reinen“ Buchhändler gab es lt. Jessen zu dieser Zeit in Eckernförde noch nicht.

[6] ebda. S. 159.

[7] Kopitzsch, Franklin: Lesegesellschaften und Aufklärung in Schleswig-Holstein.- In: ZSHG 108 (1983) 141 - 170.

Siehe auch: Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein euro- päischer Vergleich.- Hrsg. v. Otto Dann.- München: Beck, 1981.

[8] Dieser Zeitpunkt dürfte kein Zufall sein. Die französiche Revolution von 1789 bewirkte überall in Europa bis in ländlich-kleinstädtische Bereiche eine Schärfung gesellschaftspolitischen Bewußtseins mit der Folge eines steigenden Bedarfs an Information.

[9] Dazu gehörten auch zunehmend belletristische Titel, die für die meisten Menschen - im Gegensatz zu Adligen und Großbürgern - noch kaum erschwinglich waren.

[10] Wöchentliches Intelligenzblatt für Eckernförde und die umliegenden Gegenden.- 1814 ff. (nachf. zit.: Intelligenzblatt...) Vgl. auch: Jessen, Willers: Die erste Eckernförder Zeitung.- In: Jahrbuch der Heimatkundlichen Arbeitsgemeinschaft Schwansen, Amt Hütten, Dänischwohld.- 7 (1949) 93-103.

[11] Ob aus der Formulierung „25ste Jahrgang“ auf eine Gründung schon in den Jahren 1789 oder 1790 geschlossen werden kann, ist zumindest fragwürdig. Auch Thömings „wöchentliches“ Intelligenzblatt erschien tatsächlich häufiger.

[12] Liebe und Trennung. Charlotte von Ahlefelds Briefe an Christian Friedrich Tieck.- Hrsg. u. komm. von James Trainer.- Bern, u.a.: Lang, 1999. S. 157.

[13] Intelligenzblatt... 3.8.1814.

[14] Intelligenzblatt... 12.12.1814.

[15] Intelligenzblatt... 2.11.1814.

[16] Intelligenzblatt... 5.9.1814.

[17] Intelligenzblatt... 12.12.1814.

[18] Möglicherweise bestanden in Eckernförde, wie auch andernorts üblich, weitere private kommerzielle Leihbibliotheken. Quellen hierzu konnten nicht ermittelt werden.

[19] Gesetz des Eckernförder Gewerbevereins (Beschluß vom 25.September 1875.).- StAE I Ge 4.

[20] StAE I Ge 4.

[21] Catalog der Gewerbevereins=Bibliothek zu Eckernförde.- Eckernförde: Schwensen, 1879.- StAE I Ge 4.

[22] StAE I Ge 4.

[23] StAE VI B 42

[24] Einladung „An die Herren Kreistagsabgeordnete des Kreises Eckernförde“ (20.2.1899) zur Sitzung des 69. Kreistags.- LA SH Abt. 320 Eckernförde Nr. 1338.

[25] ebda.

[26] Reglement für die Kreisvolksbücherei des Kreises Eckernförde.- LA SH Abt. 320 Eckernförde Nr. 1339.

[27] Chronik der Stadtbücherei Eckernförde. (Handschriftliche Aufzeichnungen der Büchereileitung 1909 bis 1933, sowie lückenhaft bis 1955.-Fotokopie im Besitz des Autors).- Im folgenden: „Chronik“.

[28] Bücherverzeichnis der Kreisbücherei Eckernförde (Stadt.).- Eckernförde: Schwensen, 1914.

[29] Zu diesen drei Autoren vgl. Bergmann, Klaus: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft.- Meisenheim am Glan: A.Hain, 1970.

[30] vgl. Mosse, George L.: Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus.- Frankfurt a.M.: A.Hain, 1991.- S. 116 ff.

[31] a.a.O. S. 104 ff.